aus einem brief | jetzt


lieber á,

ist denn nicht jedes gedicht, (jedes kunstwerk): jetzt? und zwar zu jedem zeitpunkt, zu dem man es schreibt, und zu dem man es liest/ betrachtet. deshalb ist aus meiner sicht jeder text in der gegenwart angesiedelt. und gleichzeitig ist jedes geschriebene wort auch schon wieder vergangenheit sowie jedes kommende wort zukunft – und zwar immer dann, wenn jemand das geschriebene liest! immer wieder neu. vielleicht ist es unter anderem das, was das schreiben aus- oder zumindest auch reizvoll macht? vielleicht ist das sinnieren über das „jetzt“ auch so faszinierend, weil es nie wirklich fassbar ist?
jedes „jetzt“ ist einzigartig. und für jeden ist es anders. (zeit ist also subjektiv?) manchmal verschiebt es (das jetzt) sich sogar innerhalb der zeit. im gedicht entsteht es immer wieder neu:

jetzt
liest du
dieses gedicht

diese zeitbetrachtungen, dieses beleuchten der gegenwart beschäftigen mich schon lange. das nachdenken darüber kann immer nur fragmentarisch sein, weil es ein endlos weit denkbares thema ist. und noch ein gedanke: raum ist mehrdimensional. warum also sollte zeit eindimensional sein?

jetzt
ist der himmel
blau und öffnet
ein tor zum anderen
jetzt
ist der himmel
blau und öffnet
ein tor zum anderen
jetzt
ist der himmel
jetzt ist
jetzt

herzliche grüße aus dem jetzt (??) -> für mich jetzt. wenn du es liest, für mich vergangen: aber für dich: jetzt.

ist es nicht verrückt mit der zeit??

alles liebe!

deine d.


©diana jahr

skizze (152)



und du antwortest mit einem handstreichen, als ob du meine gedanken liest, und du liest sie nicht nur, sondern übersetzt sie dem wind. ein stilles gespräch, nicht verlassen, nur versunken in einem zimmer der nacht. gute geister, denke ich abermals, und du öffnest das fenster. siehst du, sagst du, hörst du? aus dem dunkel, nichts. es wird kalt, aber mir ist warm. gleichzeitig greifen wir zum fenster, wollen es schließen. handgedichte. wir gehen zum kamin und setzen uns. gischt kommt mir in den sinn, als du mich küsst und dass ich deine gedanken spiegle, als wären mir meine eigenen worte abhanden gekommen. dabei haben wir nur die geschichte beiseite gestreift. oder sind wir
mittendrin?


©diana jahr 2021/22

skizze (148)



im wind schrägt sich licht, und wir drehen stimmen zwischen den händen, hitze. ein regenbogen verblasst, ein anderer wendet sich ab und biegt in eine weitere zeit. den kindern sagen wir keine märchen, die wahrheit ist zu fantastisch, so wünschen wir es uns. aber der regen redet nicht mehr. wir müssen neue sprachen lernen, so ist es in die erde geschrieben. einst sahen wir sterne verglühen, seitdem verbinden und entzweien sie uns. aber der wind, er kennt keine grenze, überall hinterlässt er spuren. einer gehen wir nach, hand in hand: der regenlosigkeit. kein nebel, heiseres land. immer werden wir durstig sein.


©diana jahr 2022

zuflucht



doch hier ist unsere zukunft, zufluchtsort im gedicht, hier wird es nie kalt. die fäden halten uns, wickeln uns ein und aus, wärmen unsere worte, spannen, entspannen, verknoten und lösen sich. deine hände sind figuren, wenn sie mich erkunden, werden leicht und leichter. und deine erst, sagst du, und hältst ganz still, wenn meine finger auf dir tanzen und dann meine hände sich an deinen durchtrainierten körper schmiegen. dabei bin ich so unsportlich, lache ich, nur gehen mag ich, und tischtennis und badminton, federball sagte man damals noch. federn, sinnierst du, deine finger sind federn. abrupt setze ich mich auf. dürfen wir das überhaupt? da draußen ist krankheit und krieg. natürlich dürfen wir, sagst du, jetzt erst recht. du küsst mich, als wäre ich ein zu erforschendes meer und setzt mir eine krone aus glitzernden wörtern auf. ich sage danke und dass ich dich wahnsinnig mag. ich weiß, du wahnsinnige, lachst du. dann wirst du ganz ernst. dich spüren, sagst du, das ist es, ich will dich spüren. und ich dich. wann immer es gelingt, öffnet sich ein gedicht.


©diana jahr 2022