Schweißgebadet wachte ich auf. Schon wieder ein Alptraum. Dabei fing alles so gut an, aber dann war da dieser Drache… ein Drache?? Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und musste beinahe lachen. Dabei fühlte sich irgendetwas merkwürdig an. Ich drehte mich auf den Rücken, um zu entspannen, aber es ging nicht. Irgendetwas hinderte mich. Irgendetwas klebte dort. Nein, kleben war wohl das falsche Wort. Es war etwas, was ich spürte. Eine Geschwulst? Aber so groß? Vielleicht schlief ich ja noch. Schlaftrunken setzte ich mich auf. Da war etwas, definitiv. Und ich konnte es bewegen! Als hätte ich einen dritten Arm. Es tat nicht weh, fühlte sich nur seltsam an. Ob ich es mir mal anschauen sollte? Aber ich hatte Angst davor. Verwirrt verharrte ich. Schließlich erhob ich mich. Zögernd trat ich vor den Spiegel. Ein blasses Wesen starrte mich an. Langsam drehte ich mich, und das, was ich sah, machte mich sprachlos. Ein prächtiger Flügel prangte an meinem Rücken. Er schimmerte in allen Regenbogenfarben. Ich konnte ihn wahlweise an den Rücken legen, so dass er sich wie ein Pullover an meine Haut schmiegte. Oder ich konnte ihn ausbreiten. Ich fragte mich, was geschehen war. Musste an Kafka denken. Ich bekam Gänsehaut. Gleichzeitig fühlte ich ein Bedauern: Schade, dass es nur einer war. So konnte ich nicht fliegen. Aber das hätte ich vermutlich auch mit zwei Flügeln nicht gekonnt, bei der Anatomie. Und nun? Sollte ich zum Arzt gehen? Nein, auf keinen Fall. Der witterte womöglich ein medizinisches Wunder und wollte sich dann mit fremden, ha, mit meinen Federn schmücken. Außerdem, wie sollte er mir schon helfen… vielleicht könnte man das Ding wegoperieren? Ich war mir nicht mal sicher, ob ich das wollte. Ich setzte mich aufs Bett und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Ziemlich erfolglos. Woher kam das Ding? Und warum? Nun, vorerst konnte ich den Flügel ja verbergen. Aber wie lange? Ich beschloss, mich erstmal anzuziehen. Ein locker geschnittenes Oberteil würde den Flügel schon kaschieren. Ich schaffte es, mir mein weitestes Sweatshirt über den Kopf zu ziehen. Dann machte ich Kaffee und überlegte. Vielleicht sollte ich Angelo, meinen besten Freund, einweihen. Ich griff zum Handy und fragte ihn, ob er heute Zeit habe, und machte es ein wenig dringend. Wir verabredeten uns für den Nachmittag.
Punkt drei Uhr klingelte es. Angelo brachte mir Blumen mit, einen großen bunten Strauß und fiel mir in die Arme. Lachend befreite ich mich. „Ja sag mal, du siehst ja aus, als wären dir über Nacht Flügel gewachsen! Nun schieß schon los, welchen Wettbewerb hast du gewonnen?“ Ich war Journalistin und schrieb nebenher auch Gedichte. Manchmal schickte ich etwas ein. Angelo hielt mich für talentiert, ich war mir da nicht so sicher. Ungläubig starrte ich ihn an: „Woher weißt du…“
„Ha – wusste ichs doch!“
„???“
„Na, welchen Wettbewerb?“
Verwirrt stotterte ich: „Nun komm erstmal rein. Kein Wettbewerb. Aber –„
„Aber?“
„Das mit den Flügeln –„
Nun schaute Angelo mich verwirrt an. „Hey, ich meine, du strahlst so. Das muss doch irgendeinen Grund haben! Oder hast du dich etwa verliebt?“ feixte er.
„Nein.“
„Na, was dann? Du grinst wie ein Honigkuchenpferd, so wie mein Alex immer, wenn wir…“ Er lachte. Wortlos schob ich meinen Pulli hoch.
Angelo starrte mich an. „Was machst du da?“
„Na, schau doch! Da, auf meinem Rücken!“
„Hm, ein paar Pickelchen, aber sonst ganz proper. Was soll denn da sein?“
Erschrocken versuchte ich den Flügel zu bewegen, ja, es ging. Ich breitete ihn aus und sah Angelo erwartungsvoll an. Der wiederum sah aus wie ein lebendes Fragezeichen.
„Mensch, der Flügel! Siehst du ihn denn nicht??“
„Welchen Flügel?“
Ich stutzte. Und ließ langsam meinen Pullover sinken. Er sah ihn nicht. Wie konnte das möglich sein? Vielleicht träumte ich ja doch.
„Angelo, mir ist über Nacht ein Flügel gewachsen. Ich kann ihn sehen, ich kann ihn spüren, ich kann ihn bewegen!“
„Also, ich sehe nichts!“
„Meine Güte“, murmelte ich.
Angelo sah mich skeptisch an. „Du strahlst so, als wären dir hundert Flügel gewachsen, Liebes, aber, ehrlich gesagt, ich sehe leider keinen einzigen.“
„Jetzt denkst du sicher, ich sei durchgeknallt.“
„Hm“, machte Angelo, aber ein Lächeln umspielte seinen Mund.
„Ich meine, ich sitze hier, und mir ist ein Flügel gewachsen. Einer nur, wohlgemerkt. Und nur ich sehe ihn? Wie verrückt ist das denn! Andererseits… wenn ihn keiner sieht, dann brauche ich mich oder den Flügel auch nicht zu verstecken. Irgendwie gefällt mir das alles.“
„Siehst du, und schon wieder dieses Lächeln von innen, wie ein Leuchten. Also, das gefällt mir auch!“
„Angelo, ich muss nachdenken.“
„Ja, das verstehe ich. Bin schon weg. Aber wenn du mich brauchst, dann melde dich, verstanden?“
„Aber ja, das mache ich. Danke, Angelo. Es ist so gut, dass es dich gibt.“
Sobald ich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, setzte ich mich auf die Terrasse, bewaffnet mit Stift und Papier. Ich musste meine Gedanken sortieren, und am besten ging das, indem ich sie aufschrieb.
Ich fühlte mich leicht und frei. Ich meine, wem wächst schon ein Flügel? (Obwohl, wer weiß. Vielleicht gibt es viel mehr Menschen mit Flügeln? Es sieht sie ja offenbar niemand sonst.) Und wer weiß, vielleicht wächst mir ja auch irgendwann noch der zweite.
Ich begann zu schreiben.
©dj2016
an dieser stelle mal wieder ein dickes DANKE SCHÖN an euch lese- und kommentierfreudigen!
ich wünsche euch eine schöne (advents)zeit und – pflegt eure flügel! 😉
es grüßt euch herzlich eure diana
Eine schöne und irgendwie anrührende Geschichte. Ich werde gleich mal meinen Pullover nach oben schieben und nachschauen. Ob ich auch Nachos Winterfell liften sollte? Aber seinen evtl. vorhandenen Flügel könnte ich ja auch nicht sehen…
Liebe Grüße und dir ebenfalls eine schöne Zeit!
Achim
LikeGefällt 1 Person
tja, wer weiß? 🙂
danke sehr und sonnige grüße an dich und nacho!
LikeGefällt 1 Person
Die Flügel verbergen ist nicht einfach.
LikeGefällt 1 Person
stimmt, vor allem für einen kormoran 😉
LikeGefällt 1 Person
Wunderschön, deine flügelgeschichte,liebe diana. Eine tolle Geschichte für die vorweihnachtszeit und für danach auch noch ⺠Ich wünschte mir auch so einen Flügel für inneres in Äußeres leuchten. Schön,dass du einen mit deiner feinverblüffenden geschichte hergeschickt hast
Liebe grüße aus der Klinik von bruni
LikeGefällt 1 Person
oh nee, meine liebe bruni, du bist in der klinik… na, hoffentlich können sie dir da endlich helfen! 🍀
liebste grüße und gedanken und alles, alles gute— und ja, einen flügel wünsch ich dir!
danke für deinen lieben und schönen kommentar, du.
deine diana
ps – dein kommentar kam sehr kryptisch hier an, wohl der tastatur in der klinik geschuldet…(?). ich habe ihn soweit ich es verstanden habe, ausgebessert.
LikeGefällt 2 Personen
Sehr schön geschrieben. Eine interessante und zum Nachdenken anregende Kurzgeschichte. 🙂
Viele Grüße,
kreativschatz
LikeGefällt 1 Person
danke sehr, das freut mich! 🙂
liebe grüße,
diana
LikeGefällt 1 Person
Sehr berührend geschrieben und zum Nachdenken anregend, liebe Diana.
Herzlich,
Anna-Lena
LikeGefällt 1 Person
danke sehr, liebe anna-lena, ein feines kompliment, das mich besonders auch von dir freut. 🙂
herzliche grüße auch,
diana
LikeLike
❤ 🙂
LikeGefällt 1 Person
Es erinnert mich an die Geschichte von Graugans, an der so viele mitwebten, ich weiss die Überschrift nicht mehr, aber auch dort war Einem Flügel gewachsen, zugegeben, zwei und man sah sie auch …
eine feine Geschichte ist das, liebe Diana, ich wünsche dir einen feinen Advent
herzlichst
Ulli
LikeGefällt 1 Person
oha, ja, der gedanke, dass einem flügel wachsen, ist soo neu wohl nicht… 😉
die geschichte von graugans kenne ich gar nicht… hast du vielleicht einen link?
danke sehr für deine feinen worte, liebe ulli!
herzliche grüße an dich,
diana
LikeGefällt 1 Person
schau mal hier: http://www.helminger-projekte.com/graugans/hoert-hoert-geschichte-am-feuer-der-bote/ in diesem letzten Artikel hat Graugans das Videio eingestellt und du kannst die ganze Geschichte in einem Rutsch hören, es braucht ein bisschen Zeit, ist aber genau das Richtige für dunkle Herbstabende-
herzlichst
Ulli
LikeGefällt 1 Person
oh, danke sehr. das klingt ja spannend, wie diese geschichte entstanden ist! das werde ich mir bei gelegenheit gern mal „zu gemüte führen“ 🙂
liebe grüße nochmals,
diana
LikeGefällt 1 Person
Auch deine längeren Texte lese ich gerne, liebe Diana, du Künstlerin der kurzen und langen Verse.
Es gibt sie bestimmt, diese Flügel, die für andere unsichtbar sind.
LikeGefällt 1 Person
hach, das freut mich jetzt aber, liebe marion… eigentlich schreibe ich auch gerne mal längeres… müsste ich einfach mal wieder mehr machen. 🙂
ja, ich glaube auch an diese flügel!
lieben dank an dich!
LikeGefällt 1 Person
An diesen Flügel glaube ich auch, und morgen hast du vielleicht schon einen zweiten und fliegst auf und davon. Das wäre schade – ich habe deine Geschichte schier atemlos gelesen, so spannend und schön, liebe Diana. Mach mal so weiter, bitte.
LikeGefällt 1 Person
hui, das freut mich sehr, liebe ule!
ganz lieben dank für deinen schönen ermutigenden kommentar… ich habe schon ein paar solcher texte/ kurzprosa/ kurzgeschichten geschrieben, vielleicht sollte ich da aber noch mehr…? macht ja auch riesig spaß. 🙂
herzliche dankesgrüße an dich!
LikeGefällt 1 Person
Liebe Diana, nach relativ längerer Zeit komme ich mal wieder auf deine Blogg – Seite, lese diese wunderbare Kurzgeschichte wie in einem Atemzug. Spannend schön deine Lichtworte! Sie beflügeln uns alle, die mit Herzblut schreiben bzw. kreativ Schönes gestalten. DANKE für diesen besonderen Lesegenuss, so passend für diese Lichterzeit!
Und während dem Lesen fielen mir unwillkürlich auch die Verszeilen von Rose Ausländer ein (vielleicht kennst du auch dieses Gedicht?):
Der Engel in dir
freut sich über dein
Licht
weint über deine Finsternis
Aus seinen Flügeln rauschen
Liebesworte
Gedichte Liebkosungen
Er bewacht
Deinen Weg
Lenkt deinen Schritt
engelwärts
In diesem Sinne auch Dir, liebe Diana, eine wundervolle Advent- und Weihnachtszeit!
Warme Lichtflügelgrüße
Gerda
LikeGefällt 1 Person
liebe gerda, vielen lieben dank für deinen schönen kommentar – und das wunderbare gedicht von rose ausländer – jaaa, ich kenne es und ja, es passt tatsächlich gut 🙂
auch dir einen lichtvollen dezember und alles liebe!
diana
LikeLike
Das ist eine sehr frohe Geschichte, irgendwie! Erinnert mich an das Gefühl, das ich habe, kurz nach dem Aufwachen, wenn mir träumte, ich könne fliegen. Dieses Gefühl verschwindet dann leider im Lauf des Tages; wäre schön, wenn davon wenigstens so ein Schiller-Flügelchen zurückbliebe…
LikeGefällt 1 Person
oh, wer weiß, vielleicht bleibt ja doch irgendwie immer ein winziges stückchen „schiller-flügelchen“ (schöön!) zurück… schmunzel 🙂
danke vielmals, chère madame hava!
LikeGefällt 1 Person
Ja, vielleicht wenigstens eine Schiller-feder, die langsam zu einem Flügel wächst, wer weiß… 🙂
LikeGefällt 1 Person
Meine liebe Diana! Also hier geht Deine Fantasie nun wieder komplett mit Dir durch. … aber auf so wunderschöne und sympathische Weise dass man abheben könnte. Eine wirklich tolle und hoffnunggebende Adventsgeschichte.
Aber Kafka lass bitte weg – Gregor würde Dir sicher nicht stehen. … eigentlich steht er ja auch für das Gegenteil, von dem, was du in Deiner Geschichte beschreibst. … es sei denn, Du schlüpfst gerade aus dem Storchenei. Aber wie soll man das deuten? Hm … nachdenk …
Alles Liebe,
Dein Michael
LikeGefällt 1 Person
lieber michael – fantasie?? na, dann guck doch mal auf meinen rücken…! 😀 (ach nee, siehst du ja nicht) – (oder auf deinen eigenen…??) lach!
nein, quatsch, aber ja, um fantasie geht es hier wohl…
und was den kafka angeht – sags der protagonistin selbst, hihi, was kann ich dafür, wenn sie an „die verwandlung“ denkt? allerdings kann ichs schon verstehen, denn sie weiß ja zu dem zeitpunkt noch gar nicht, was eigentlich los ist.
hab dank für deine worte und sei lieb gegrüßt! 🙂
deine diana
LikeGefällt 1 Person
Flügel habe ich keine. Aber eine mich beflügelnde Elfe. Ob das zählt? 😀 Schöne Geschichte. Danke fürs teilen.
LikeGefällt 1 Person
und ob das zählt! 🙂
ich danke dir ganz herzlich.
LikeGefällt 1 Person
Grüße an die Vielseitige ♥
Herzlich
Barbara
LikeGefällt 1 Person
danke sehr, liebe barbara, *freu*!
ganz herzliche grüße auch an dich,
diana
LikeLike
Deine Geschichte ist wunderbar zu lesen und sie verleitet mich dazu, hineinzugleiten und zu träumen.
deine Gabriele.
LikeGefällt 1 Person
das freut mich sehr, meine liebe gabriele!
grüße von herzen,
deine diana
LikeLike
Uli schickte mir den Link zu deinem Blog. Schau doch mal bei mir rein….dann wirst du schon sehen…….Marie
LikeGefällt 1 Person
😀 oooooh! schön!
liebe grüße und herzlich willkommen,
diana
LikeLike
Gefällt mir sehr, nur fällt mir kein Kommentar mit der gleichen Tiefe ein, aber die Geschichte gefällt mir sehr, sehr…
LikeGefällt 1 Person
oh, ich danke dir von herzen für diesen schönen kommentar, das freut mich doch sehr, wenn sie dir so gefällt 🙂
LikeGefällt 1 Person
Eine wunderbare Geschichte! Im wahrsten Sinne beflügelt, ein schöner Gedanke, eine zauberhaft Idee. Wer weiß, wo ein Flügel wächst, wächst ja vielleicht auch noch ein zweiter.
Jedenfalls Dankeschön!
LikeGefällt 1 Person
oh, welch wunderschöne rückmeldung, über die ich mich sehr freue!
ich danke DIR!
mit lieben willkommensgrüßen
diana
LikeGefällt 1 Person